Ninon Demuth hat mit ihrer Initiative „Über den Tellerrand“ Menschen einander näher gebracht – kulinarisch und kulturell. Ein Gespräch über ein etwas anderes Integrationskonzept.
Text: Carlotta Sturm, Bild: Alejandra Loreto
2013. Oranienplatz. Absperrzäune, Zelte, das Camp der afrikanischen Geflüchteten. Ein eigenartiger Ort, eine abgeschiedene Welt, verdeckt von weißen Planen. Die Studentin Ninon Demuth kommt hier öfter vorbei. Sie fragt sich, wie es den Menschen dort geht.
Wenige Wochen später. Plastikstühle, Matratzen, ein altes Sofa. Jetzt sitzt Ninon dort in einem Kreis von 15 Menschen, die sich um sie versammelt haben. Alle schauen sie an. Man wird euch blöd anschauen, hatten Freunde sie gewarnt. Doch die Blicke sind neugierig, manche eher schüchtern, zurückhaltend. Vor allem die der Frauen.
„Gut, lasst uns einfach dort hingehen und zusammen kochen“
Gut, lasst uns einfach dort hingehen und zusammen kochen, hat Ninon sich gedacht. Wie naiv, würden die meisten Leute sagen. Als sie dort das erste Mal ankam, kamen die Leute auf sie zu. Begrüßten sie fröhlich. „This shitty thing”, flucht einer der Männer. Lachen. Gemeint ist der Kocher, dessen Gasflamme alle zwei Minuten erlischt. „Es hat stundenlang gedauert. Man brauchte wirklich Geduld”, erinnert sich Ninon noch heute, vier Jahre später, ganz genau an diesen ersten Tag. Bald ist klar: „Wer welche Sprache spricht, ist beim Kochen gar nicht wichtig.” Es verbindet. Ninon sagt: „Es fängt viele Menschen ein. Gerade die, die sich nicht von selbst in Flüchtlingsheimen engagieren.”
„Wer welche Sprache spricht, ist beim Kochen gar nicht wichtig“
Acht Wochen Zeit, fünf Euro Startkapital
Bei einem Gründerwettbewerb der FU Berlin entsteht die Idee für „Über den Tellerrand”: Ein Kochbuch, für das ein Crowdfunding gefunden wird. „Man hörte unglaublich viel in den Medien über Geflüchtete, hatte aber nie auch nur ein Gesicht dazu”, erklärt Ninon. Das gemeinsame Kochbuch wird das Medium der Initiative und nimmt Menschen mit auf kulinarisch-kulturelle Reisen. 21 Rezepte, 21 Köche, davon alle neu in Berlin. Sara, Wajid, Diego und Mouhamad kochen Hirschgulasch, Harissakuchen, Kichererbsen-Dhal und Kayadi-Suppe. Dabei erzählen sie von sich und ihrer Heimat.
Mit der Idee des gemeinsamen Kochens hätte das Startup auch in die Gastronomie gehen können. Das war für Ninon aber nie eine Option. Es hätte einfach nicht die gleiche Reichweite. Das Buch erweist sich als echtes Erfolgsrezept, wird nachgedruckt. Die frischgebackenen Gründer merken bald: „Das ist kein Halbtagsjob.” Das Studium gibt Ninon für das neugeborene Unternehmen vorerst auf.
Inzwischen ist das Startup groß geworden. Dazu kommt neben dem Unternehmen noch ein gemeinnütziger Verein, der von der EU gefördert wird und einen riesigen Rückhalt in der Stadt findet. Insgesamt drei Kochbücher sind jetzt erschienen. Ein Stand in der Kreuzberger Markthalle 9 ist bezogen, Kochkurse finden statt, die Initiative übernimmt Caterings. Und dann: „Kitchen on the run”, die jüngste Innovation des Unternehmens. „Ein Container, der auf den Spuren von Geflüchteten durch ganz Europa tourt”, erklärt Ninon. Auf ihrer Website kann man dem „mobilen Integrationsinkubator” folgen. Zu sehen sind lachende Menschen, die tanzen, die zusammen sitzen, die einen Kreis mit Zeigefinger und Daumen formen, um die Qualität des Essens zu bezeugen. Alles top.
„Über den Tellerrand“ hat ein anderes Integrationskonzept: Man streiche das Mitleid als Zutat und ersetze sie durch eine große Prise positive Energie.
Alles top…?
Man warf den Gründern vor, das Thema „Geflüchtete” auszuschlachten, Menschen als Material eigener Ambitionen zu funktionalisieren. Die Kritik: Peppige syrische Gerichte statt politischer Analyse des Bürgerkriegs. Ninon hält dagegen: „Klar, wir posten keine Bilder von weinenden Menschen, aber wir wollen nichts beschönigen. Weder wird hier irgendwer davon reich, noch bezeichnen wir uns als reine Hilfsstätte. Wir schaffen etwas, von dem alle Seiten profitieren. Die Kochkurse kosten Geld, die Menschen wollen etwas lernen, und allein dadurch entsteht eine ganz andere Basis. Zu den Kochkursleiter*innen wird nämlich aufgeschaut und nicht mitleidig herab geschaut.” Das Wort „Flüchtling” wird im Umgang miteinander immer unwichtiger.
Mit ihrer „blumigen Kommunikation” will Ninon, dass Menschen sich auf Augenhöhe begegnen. Statt Teddybärenspende hat „Über den Tellerrand” ein anderes Integrationsrezept: Man streiche das Mitleid als Zutat und ersetze sie durch eine große Prise „positive Energie“.
Es war dem Startup aber nicht genug, einmalige Begegnungen zu schaffen. „Es musste irgendwie weitergehen.” Deshalb wurde der Verein gegründet, der einen viel weiteren Rahmen für Aktivitäten bildet. Jetzt gibt es gemeinsamen Sport, Sprachkurse, Sprachaustausch und Bildungsprogramme. Und in Zukunft soll sich das Konzept nicht mehr allein an Geflüchtete richten, sondern sich allgemein der interkulturellen Vermittlung widmen. „In der Gesellschaft ist es immer wichtig, aufeinander zuzugehen. Es wird auch weiterhin nötig sein, den Menschen beim Brückenbauen zu helfen.”
„So what?“ – zu dieser Einstellung rate ich allen neuen Gründern. Das ist das beste Mittel gegen zu langes Grübeln und „Risikofeigheit“
Ninon ist inzwischen nur noch Teilzeitunternehmerin. Sie setzte ihr eigentliches Studium fort und ist heute als Biotechnikerin festangestellt. Eine große Umstellung und ein Abschied, der ihr schwer fiel. „Auf einmal musste ich feststellen, huch, das funktioniert ja ohne mich”, erzählt sie, lacht und wird dann ernst. „Das ist schon ein komisches Gefühl”. Wie genau es für sie weitergehen wird, weiß sie nicht. „Vielleicht hab ich ja in zehn Jahren nochmal eine irre Idee mit Freunden”, überlegt sie und lacht. Sie sieht gelassen in die Zukunft. „So what”- zu dieser Einstellung rät Ninon allen neuen Gründern. Das sei das beste Mittel gegen zu langes Grübeln und „Risikofeigheit”.
Bei allem öffentlichen Erfolg vergisst Ninon ihre persönlichen Ideale nicht: „Ob Integrationsarbeit oder Diabetikdiagnosen, ich will mit gutem Gewissen zur Arbeit gehen, den Menschen auf irgendeine Weise helfen”. In ihrer eigenen modernen Formulierung: „Ich will positiven impact stiften”.
Das Interview fand im Frühjahr 2017 für das Buch „Gastro.Startup.Berlin“ statt.